Freitagsflügel – 26.06.2020

Mit dem Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen!

„Mein Herr! Weite mir meine Brust und erleichtere mir meine Aufgabe und löse den Knoten meiner Zunge, damit sie meine Rede verstehen mögen.“

Novalis klärt uns darüber auf, was Romantisieren bedeutet:

„Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“

Novalis wird als Inbegriff der Romantik bezeichnet. Er wurde nach seinem Tod von Tieck und Friedrich Schlegel auf eine Art und Weise inszeniert, die dazu führte, dass Romantik fortan als etwas Realitätsfernes galt. Ein Mann, der nicht im Leben steht, der dichtet ohne fundiertes Wissen über die Dichtkunst zu besitzen – doch sein gesamtes Werk ist mit Anspielungen auf frühere Werke durchzogen. – Was bedeutet Romantisieren? Was ist ein Romantiker? Ist ein Romantiker ein törichter Idiot, der nur Flausen im Kopf hat und vor lauter Schönmalerei die Realität nicht sehen und begreifen kann?

Dies werden nur Menschen aussagen, die sich auf einer niedrigen Stufe des Seins befinden und sie haben, aufgrund ihrer niedrigen Seinsstufe, auch recht. Denn in ihnen ist nichts, dass Adel verdient. Sie finden Gefallen am Niedrigen. Dies ist, so Allah, der Majestätische, im Koran, die Stufe des Nafs Emmare. Auf dieser Seinsstufe erscheint das Leben monoton und nur sinnliche Genüsse, äußerliche Erlebnisse können Abhilfe schaffen, um der Monotonie des Lebens zu entgehen. Dies ist ein durch und durch unromantisches Leben und diejenigen, die sich auf dieser Stufe befinden, würden sich sogar – so verblendet sie sind – als Realisten bezeichnen.

Das bessere Selbst muss an die Stelle des niederen Selbst treten. Dies bezeichnen Muslime, die Tasawwuf praktizieren, als Erziehung des Menschen. Schiller hat es als „ästhetische Erziehung“ bezeichnet, Goethe nennt es „Geschmack ausbilden“. Als Selbstbildung würde ich es heute bezeichnen. Wir müssen uns selbstbilden. Wer sich nicht selbstbildet, der ist nicht in der Lage die Monotonie des Alltags zu überwinden und seinem Leben Magie, Aufregung und Schönheit zu verleihen. Romantisieren ist die Kunst davon, erhaben über die Widrigkeiten und Schwierigkeiten des Lebens zu sein. Ricarda Huch beschreibt Novalis’ Anliegen in ihrem Buch über die Romantik:

„Es ist keine Kunst, sich, wenn man nur Sinn dafür hat, in schönen Dichtungen zu berauschen; aber in monotoner, direkt nur den Verstand oder praktische Fähigkeiten angehender Beschäftigung das allgemein Interessante und Fördernde herauszufinden, das zeigt inneren Reichtum und unendliche Entwicklungsfähigkeit an.“

Ist solch ein Mensch ein Idealist, ein Träumer? Als ich vor einigen Jahren für den Weltkonzern Volkswagen am Band arbeitete, baute ich unter anderen Tätigkeiten Airbags ein. Als mich jemand fragte, was ich bei VW tue, antwortete ich: „Ich rette Menschenleben.“ – Der Fragende schaute mich verdutzt an. Ich fuhr selbstsicher fort: „Wenn ich die Airbags nicht einbauen würde, dann würden mehr Menschen bei Unfällen sterben.“ – „Aber jeder kann doch Airbags einbauen“, hallte es zurück. „Ja, kann sein. Aber ich tue es.“

Nur weil etwas viele tun können, wird in der Gesellschaft eine solche Tätigkeit nicht gewürdigt und wertgeschätzt. Es muss ja immer etwas Besonderes sein. Jeder muss Dichter sein, Künstler, um wertvoll zu sein. So ein Schwachsinn. Wer Airbags einbaut, rettet Menschenleben. Wer unsere Straßen vom Müll befreit, schützt uns allesamt vor Krankheiten, Rattenplagen und vielem mehr. Aber das sehen wir nicht. Wir sind dem Wahn etwas Besonderes sein zu müssen verfallen. Wie gewöhnlich doch solche Menschen sind. 

Glaube nicht, dass sich die Erde ohne dich nicht weiter dreht,
Wisse, dass die Sonne ohne dich auch weiterhin aufgeht;
Drum verfalle nicht dem Wahn zu denken Mittelpunkt zu sein, 
Bist ein Mensch wie andre: Mittelpunktkomplexe, wie gemein.

Der Romantiker tut nichts anderes als andere, aber das, was er im Herzen empfindet und denkt, das unterscheidet sich von dem, was angebliche Realisten empfinden und denken. Der Romantiker ist der eigentliche Realist. Er erkennt die Dinge in ihrem universalen Kontext an und dadurch gewinnen sie an Wert. Der größte Romantiker und zugleich aller Romantiker Meister, Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, sagte: 

„Schätze niemals vom Guten etwas als gering an und sei es, dass du deinen Geschwistern im Glauben mit einem Lächeln begegnest.“ (bei Muslim überliefert)

Zu lächeln ist ein Gottesdienst. Wir wissen nicht, woher jemand kommt, in welchen Schwierigkeiten sich jemand befindet und wie sehr er der Liebe bedarf. Aus diesem Grund sollen wir auch das Lächeln nicht geringschätzen. Es kann anderen den Tag versüßen, dem Herzen Trost sein. Es ist nicht oberflächlich; oberflächlich und arrogant ist der Gedanke, nur die Menschen anzulächeln, von denen wir meinen, dass sie es verdienen. Wer solch eine Denkweise pflegt, ist auf einer niedrigen Daseinsstufe, dem Nafs Emmare. Zu lächeln holt die Engel zu uns herab auf die Erde! Das ist praktische Poesie, das heißt im Leben ausgelebtes Gedicht! So geben wir dem Gemeinen, wie Novalis sagt, den Anschein des Ewigen. Und es ist nicht bloß ein Schein: Eine solche Handlung, eine solche innere Haltung führt dazu, dass der Engel zu meiner rechten mitschreibt und ich diese Handlung in der Ewigkeit wieder antreffen werde. Solch eine Handlung kann dazu führen, dass ich ins ewige Paradies eingehen werde. Gleichzeitig erwartet der Romantiker nicht, dass andere es ebenso tun wie er oder sie. Der Romantiker sucht in den alltäglichsten Gegenständen das Universale, Schöne und Wahre zu erkennen. Am Anfang durch Nachdenken, irgendwann fallen ihm diese Gedanken einfach zu… und dies ist die Seinsstufe, die es zu erlangen gilt… Jeder Mensch ist in diesem Sinne ein Poet, der das Universale in seiner Tätigkeit und – für den gesellschaftlichen Frieden fast schon essenzieller – und das Universale in den Tätigkeiten anderer in der Lage ist zu erkennen. Sich und andere wertzuschätzen ist das Kennzeichen eines gesunden Gemüts. Rilke lehrt uns wie dies bewerkstelligt wird:

„Wenn Ihr Alltag Ihnen arm scheint, klagen Sie ihn nicht an; klagen Sie sich an, sagen Sie sich, daß Sie nicht Dichter genug sind, seine Reichtümer zu rufen; denn für den Schaffenden gibt es keine Armut und keinen armen gleichgültigen Ort. Und wenn Sie selbst in einem Gefängnis wären, dessen Wände keines von den Geräuschen der Welt zu Ihren Sinnen kommen ließen – hätten Sie dann nicht immer noch ihre Kindheit, diesen köstlichen, königlichen Reichtum, dieses Schatzhaus der Erinnerungen? Wenden Sie dorthin Ihre Aufmerksamkeit.“

Dies ist der Weg dem Gewöhnlichen ein außergewöhnliches Ansehen zu geben: Die Kunst sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, die Kunst, das niedere Selbst mit seinem besseren Selbst zu identifizieren, kurz: Dies ist die Kunst und das Metier eines echten Romantikers. Ein Romantiker geht nicht raus und späht unaufhörlich nach Eindrücken und Inspirationen. Er lebt und sucht seinen Nächsten und der Menschheit nützlich zu sein und während des Lebens und Wirkens empfängt er Inspirationen aufgrund der Richtung seines Herzens: Es ist auf das Göttliche ausgerichtet. Aus diesem Grund empfängt es himmlische Klänge. 

Jeder Mensch kann ein Dichter, ja ein Romantiker werden. Aber nicht jeder Dichter schreibt Gedichte. Schließen wir mit einem der beflissensten Schüler des deutschen Schöngeistes ab, dem amerikanischen Lebensdichter Whitman:

„Wozu bin ich? Wozu nutzt dieses Leben?
Die Antwort: Damit du hier bist.
Damit das Leben nicht zu Ende geht, deine Individualität.
Damit das Spiel der Mächte weitergeht
und du deinen Vers dazu beitragen kannst.“

Möge Allah, der Majestätische, uns zu Dichtern des Lebens machen. Möge Er uns zu dienenden und fleißigen Menschen machen. Möge Er uns Inspiration zuteilwerden lassen… möge Er uns mit Liebe erfüllen aus Seiner unerschöpflichen Quelle und uns der Welt Liebe schenken lassen… (Amin)

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