Mit dem Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen!
„Mein Herr! Weite mir meine Brust und erleichtere mir meine Aufgabe und löse den Knoten meiner Zunge, damit sie meine Rede verstehen mögen.“
Allah, der Majestätische, teilt uns im Sure „Die Dichter“, (26/83), mit, welches Bittgebet Abraham, Allah schenke ihm Frieden, sprach:
„Mein Herr, schenke mir Urteilskraft und stelle mich zu den Rechtschaffenen.“
Im Arabischen steht hier das Wort h-k-m: Urteil/Weisheit. Das Türkische hat dieses Wort übernommen: Hikmet bedeutet Weisheit, Hüküm bedeutet Urteil. Weisheit und Urteil haben dieselbe Wurzel. h-k-m. Warum?
Vom zweiten Kalifen Umar ibn al-Khattab ist überliefert, dass er sagte: „Lerne Arabisch, denn es stärkt das Gedächtnis und verbessert die Ritterlichkeit (arab. Futuwwa).“ Wie kann eine Sprache Futuwwa stärken? Diese Frage stellte ich mir, als ich diese Aussage das erste Mal las. „Der Maure ist galant“, lässt Heinrich Heine eine seiner Figuren aussagen. Als Mauren werden in Europa die Muslime aus Al-Andalus bezeichnet. Die Muslime aus Al-Andalus inspirierten Frankreich, Italien, England, die wiederum Deutschland inspirierten – Anstandsliteratur zum Honette Homme, Gentleman, Caballero entstand. Deutschland hat nie einen angemessenen eigenen Begriff dafür entwickelt, was ein Gentleman ist. Mann von Welt nannte es Knigge, aber dies trifft es nicht. Jemand, der über Höflichkeit im Innern und im Äußeren verfügt –
Dies heißt im Koran: Fata. Abraham wird als Fata bezeichnet: „Wir hörten einen jungen Mann (arab. fata) … Sein Name ist Abraham.“ Sure (21/60) Jugend meint in diesem Fall nicht ein bestimmtes biologisches Alter, sondern einen geistigen Zustand. Imam Kuschairi beschreibt das Verhalten eines Fata, eines von Jugend durchdrungenen jungen Mannes, folgendermaßen: „Die Wurzel der Jugend (sonst üblich als Ritterlichkeit bezeichnet) ist, dass der Diener (Allahs) sich andauernd um das Wohl der anderen bemüht. Jugend ist, dass du dich nicht als höherwertig gegenüber den anderen wähnst. Derjenige, der die Jugend besitzt, ist derjenige, der keine Feinde hat. Jugend bedeutet, um deines Herren willen der Feind deines eigenen Ich zu sein. Jugend ist, dass du gerecht handelst, ohne Gerechtigkeit für dich selbst zu verlangen. Jugend (auch: Ritterlichkeit) bedeutet schöner Charakter.“ – Nur wer solche Wesenszüge besitzt, ist in der Lage Götzen zu zerbrechen. Wer jedoch nicht die Götzen in seinem Herzen zerbricht, der ist nicht dazu in der Lage, die Götzen in der Welt zu beseitigen. Was bedeutet Götzen in der Welt? Die Abgötter in den Herzen der Menschen: „Rufe zum Wege deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung und streite mit ihnen auf die schönste Art.“ Sure (16/125) Wer die Götzen von Hochmut, Prahlerei, Selbstgefälligkeit, Ruhmsucht oder Ehrsucht in sich nicht zerstört hat, der kann das Verhalten eines Fatas, eines von Jugend durchdrungenen, nicht in die Praxis umsetzen, da er nicht in der Lage ist auf beste Art zu streiten. Wie ist es möglich auf beste Art zu streiten?
Streiten kann auch als debattieren bezeichnet werden. Lasst uns erst einmal wissen, wie hässliches Streiten aussieht. Imam Ghazali sagt: „Mucadele (Streiten) besteht aus dem Willen einen anderen zum Schweigen zu bringen. Dies geschieht dadurch seine Rede schlecht zu machen; zum Ausdruck zu bringen, dass er unfähig und fehlerhaft ist; ihn zu erniedrigen und dadurch öffentlich zu machen, dass er, was das Thema betrifft, unwissend ist.“ (aus Ihya Ulum ad-Din) – Dies tun viele Diskutanten. Sie meinen dadurch etwas zu gewinnen. Aber sie gewinnen lediglich den Zorn des Unterlegenen und Befriedigung ihrer Ehrsucht. Menschen, die in Diskussionen auf diese Weise andere herabsetzen, erhoffen sich Ruhm zu erlangen und in einem besseren Licht dazustehen. Sie sind die Sklaven der Götzen in ihrem Herzen. Sie dienen Abgöttern – in letzter Konsequenz sind sie selbst der Abgott, den sie verehren. Wie anders der Fata! Er spricht, wie es Abu Hanife tat, möge Allah diesem Fata barmherzig sein, er sagte zu seinem Sohn:
„Wenn wir diskutierten, war es stets so, dass wir uns verhielten, als säße ein Vogel auf unserem Kopf, aus Angst, unser Freund könnte ausrutschen und fallen oder sich irren (das Wohlergehen anderer war uns wichtiger als Recht zu haben). Wenn ihr diskutiert, so diskutiert ihr mit der Absicht Recht zu haben und die Meinung des anderen für Unrecht erklären zu wollen (wie jemand, der die Götzen in sich noch nicht zerstörte). Zu wollen, dass die Meinung des anderen Unrecht ist, ist gleichbedeutend damit, zu wollen, dass er in den Kufr fällt (d.h. zum Verdecker der Wahrheit wird).“
Ein Fata diskutiert nicht, um einen anderen als Idiot dastehen zu lassen. Er sagt nicht: ‚selbst Schuld‘, wenn jemand sich nicht belehren lässt. Er debattiert auf eine Art und Weise, die sowohl ihn selbst als auch alle anderen hin zur Wahrheit führt. In einer Diskussion zur Wahrheit führen zu wollen bedeutet, sich und andere Allah, dem Wahren, anzunähern. Da Allah aber eben auch der Schöne ist und Wahrheit und Schönheit nicht voneinander zu trennen sind, ist es nur möglich durch schönes Verhalten zum Wahren zu führen. Schönes Verhalten bedeutet aus Liebe zum Wahren und Schönen zu handeln. Das meint der Meister der Weisen, Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, wenn er sagt: „Jede Handlung ist entsprechend ihrer Absicht.“ Wessen Absicht nicht Allah, der Schöne und Wahre, ist, der ist kein Fata und der wird langfristig hässliche Verhaltensweisen an den Tag legen, wenn er nicht den ihm gebührenden Lohn oder Anerkennung von Menschen erhält – wie ein Brotgelehrter: Der Brotgelehrte, so Friedrich Schiller, „hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt.“ Gold, Zeitungslob, Gesellschaftslob – dies sind die Götzen, die wir Menschen in jedem Zeitalter aufs Neue in unserem Herzen zerstören müssen.
Kehren wir zur Urteilskraft zurück. Von Weisheit und Urteil zu sprechen war das Anliegen. Was hat das alles mit einem Fata, schönem Verhalten und Sitte zu tun? Wer die Götzen der Ehrsucht, Ruhmsucht, Hochmut, Kleinmut, Geldgier oder Trieblust in seinem Herzen nicht zerstört, der schwächt seine Urteilskraft ab, der kann kein aufrichtiges Urteil abgeben.
Die Formel lautet: Wissen + Urteilskraft = Weisheit.
Wann ist die Urteilskraft abgeschwächt? Wenn das Herz krank ist, wenn das Herz von Götzen befallen ist. Dann ist es nicht fähig zur Weisheit zu gelangen. In Abrahams Bitte nach Urteilskraft steckt das Geheimnis zu einem Fata zu werden. Im Koran wird immer wieder von einem gesunden und einem kranken Herz gesprochen und es wird zahlreich die Frage gestellt: Habt ihr denn keinen Verstand?
Das Kennzeichen des gesunden Herzens ist, dass es frei von Götzen ist. Ein gesundes Herz führt dazu, dass ein rechtschaffeneres Urteil abgegeben werden kann. Je gesünder das Herz, umso rechtschaffener das Urteil, umso näher an der Wahrheit und Schönheit. D.h. der Zustand des Herzens beeinflusst die Funktionsweise unseres Verstandes. Das wiederum bedeutet: die Götzen in unserem Herzen beeinflussen unser Denkvermögen und mithin unser Urteil. – Weiterhin: Die Urteilskraft des Verstandes trägt zur Gesundung des Herzens bei. Dies tut der Verstand, indem er aufdeckt, welche Handlungen das Herz polieren, d.h. von Götzen befreien und welche es trüben, d.h. mit Götzen besetzen.
Und hier wiederum zeigt sich der unermessliche Wert al-Ghazalis und Rumis. Sie werteten das bloß spekulative Nachdenken ab: Denke nicht wie ein Philosoph, sagten sie, denn deine Urteilskraft wird von den Götzen in deinem Herzen getrübt. – Sie verstehen unter Philosophie das Theoretisieren ohne praktischen Bezug, ohne es in die Tat umzusetzen. Sie werteten aber nicht ab über die Erscheinungen in der Welt frei nachzudenken. Sie forderten es mit einem gesunden, d.h. von Götzen befreiten Herzen zu tun. Aristoteles sagt in seiner Nikomachischen Ethik: „Wir philosophieren nicht um in Erfahrung zu bringen, was Wert besitzt; wir philosophieren um wertvolle Menschen zu werden.“
Was kennzeichnet den wertvollen Menschen? Ein gesundes Herz, das nicht von Götzen wie Selbstgefälligkeit, Ehrsucht, Trieblust, Gesellschaftslob getrübt wird. Der einzige Grund, warum Allah, der Majestätische, uns Seinen Vortrag, Seine Lesung (wörtlich bedeutet Koran Lesung/Vortrag) zuteil werden ließ, ist Sein Wunsch, dass unsere Herzen durch das achtsame Lauschen Seines Vortrages gesunden und von den Götzen, diesen Krankheiten, befreit werden. Er sagt in Sure Yunus (10/57): „O ihr Menschen, gekommen ist zu euch die Ermahnung von eurem Herrn und Heilung für das, was ihr in der Brust tragt.“ Und in einem von Imam Ghazali zitierten Hadith Kudsi erläutert Allah, der Majestätische, was der Ausdruck eines gesunden von Götzen befreiten Herzens ist: „(Da Meine Heilung zu euch kam), warum tut ihr nur denen Gutes, die euch Gutes tun, geht nur zu denen, die zu euch kommen, sprecht nur mit denen, die mit euch sprechen und spendiert nur denen, die euch spendieren? Niemand ist einem anderen gegenüber überlegen. Die Gläubigen sind die, die an Gott und Seinen Gesandten glauben. Sie erweisen denen Güte, die ihnen Schlechtes tun, suchen diejenigen auf, von denen sie nicht aufgesucht werden, vergeben denen, die ihnen nichts geben und Betrügerischen gegenüber sind sie nicht boshaft. Sie sprechen mit den Menschen, die sie im Stich lassen und bewirten diejenigen, die beleidigend sind. Zweifellos bin Ich über alles informiert, was ihr tut.“
Ein von Götzen befallenes Herz trübt das Urteil, das der Verstand abgibt. Ein von Götzen befreites Herz ist ein gesundes Herz. Ein solches Herz trübt den Verstand nicht, es macht es erst möglich, dass ein aufrichtiges Urteil abgegeben werden kann. Um die Götzen im Innern zu zerbrechen sind gemäß Imam al-Ghazali 5 Dinge für das Herz nötig:
- „Es muss sich vom Schmutz der Dunya, d.h. des Weltlichen, bereinigen (Dinge, die mich Allah vergessen machen),
- es muss sich mit reifer Entsagung polieren,
- es muss sich von der Achtlosigkeit lösen und mit Andacht (arab. zikr) erleuchten,
- es muss sich von richtigen und trefflichen Gedanken ernähren,
- es muss sich an die Gebote Allahs, dem Wahren und Schönen, binden und mit ihnen ausschmücken.
Auf diese Weise fließen von der Leuchte der Prophetie Licht und Segensflüsse in das Herz.“ (Imam al-Ghazali: İman ve küfür çizgisi (arab. Originaltitel: Faysalu’t–Tefrika)
Unsere Urteilskraft ist getrübt. Doch weil wir modernen Menschen Informationen vorliegen haben, uns die Natur dienstbar gemacht und Technik und Technologie entwickelt haben, glauben wir, wir seien klüger und gesünder als Menschen früherer Zeiten. Martin Lings schreibt in seinem Buch „Alter Glaube und moderner Aberglaube“, dass frühere Kulturen „von einem weitverbreiteten Bewußtsein der Unvollkommenheit durchdrungen waren, dem Bewußtsein, einem Ideal bei weitem nicht gerecht zu werden.“ Dieses Bewusstsein führt wohin? Zur Suche nach Heilmitteln für die Seele. Wir heute bemessen aber Gesundheit nur nach körperlichen Maßstäben. Die Götzen in unseren Herzen, die uns davon abhalten Gerechtigkeit als solche zu erkennen, bezeichnen wir nicht als Krankheit… und so leben wir unser egoistisches und von Selbstbezogenheit durchdrungenes Leben munter hin.
Dies drückt sich auch in unserer Sprache aus. Welches Wort gibt es für Fata im Deutschen? Benutzen Muslime dieses Wort noch? In kaum einer Moschee ist davon die Rede… die gesamte Welt scheint höhere Ideale aufgegeben zu haben und diejenigen, die darüber sprechen, werden als geistig krank angesehen… was für eine verquere Welt! Das Wort Fata passt im Deutschen sehr schön. Vom Klang ähnelt es dem Wort „Vater“. Ein Fata ist der gesamten Gesellschaft wie ein Vater für seine Kinder: Er kümmert sich um sie, auch wenn sie ihm undankbar sind. Er hilft mit seinem Meeresherzen anderen sich vom Schmutz des Irrtums zu befreien und Wahres in sich aufzunehmen, wie ein Vater, der für seine Kinder das beste will, selbst wenn diese die Weisheiten dahinter nicht erkennen. Er hält seinen Mitmenschen nichts vor, wie ein Vater, der ohne Erwartung einer Gegenleistung für seine Kinder da ist.
Ein Fata ist jemand, der die Götzen in seinem Herzen zerbricht, dadurch sein Herz zu einem Meer macht und als Meeresherz zur Bildung anderer beiträgt – ob sie es ihm danken oder nicht. Er tut es aus Liebe zu Allah, dem Wahren, dem Schönen.
„Mein Herr, schenke mir Urteilskraft und stelle mich zu den Rechtschaffenen.“ (Amin)
Ein Gedanke zu “Freitagsflügel – 08.05.2020”